Im Briefnetzwerk der Brüder Grimm bildet der Goßfeldener Pfarrer Johann Heinrich Christian Bang einen wichtigen Knotenpunkt. Er stand in Briefkontakt nicht nur mit den Grimms selbst, sondern auch mit Friedrich Carl von Savigny, den Brentanos und anderen bedeutenden Romantikern. Eine Hybrid-Edition dieses Korrespondenznetzes wird an der TU Darmstadt erarbeitet.
Die bisherige wissenschaftliche Aufarbeitung des Korrespondenznetzes der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm und ihres familiären und gelehrten Umfeldes wird deren herausragender wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung und internationaler Wirkung kaum gerecht. Dabei könnten die Grimmforschung, die Romantikforschung sowie die literatur- und kulturwissenschaftliche bzw. mentalitätsgeschichtliche Forschung von einer solchen Aufarbeitung profitieren.
Um 1800 fand sich in Marburg ein Kreis von Dichter*innen, Denker*innen, akademischen Lehrern und Studenten zusammen, dessen Zentrum der Jurist und Begründer der Historischen Rechtsschule, Lehrer und Freund der Brüder Grimm, Friedrich Carl von Savigny, war. Die Fäden der Korrespondenzen, die zum Teil über ein halbes Jahrhundert währten, hielt jedoch der Goßfeldener Pfarrer und Pädagoge Johann Heinrich Christian Bang in der Hand. Diese Konstellation von Menschen und Ideen stand einerseits in Verbindung mit dem frühromantischen und kantkritischen Jena, andererseits beeinflusste sie das bedeutende Werk der daran Beteiligten, so das der Brüder Grimm und Savignys, aber auch der Brentanos.
Briefe spielen bei der Rekonstruktion solcher Konstellationen eine Schlüsselrolle. Gerade ihre Erforschung hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen. Sie dokumentieren Austausch und Verständigung der Beteiligten und die Entwicklung, erste Verbreitung und Kommentierung von Ideen. Sie bieten nicht nur erhellende biographische Einsichten, sondern kommentieren vor allem die in einem bestimmten Kontext entstandenen Werke und liefern wichtige Hinweise zu deren Entstehung. Sie zeigen Einflüsse und Lektüren und lassen auf diese Weise literarische Strömungen und ganze Wissenschaftsdisziplinen als stationäre Konfigurationen komplexer Prozesse kenntlich werden.
Die Ausgabe der Briefe der Marburger Romantikerkonstellation, der „Wiege“ eines bedeutenden Teils romantischer Wissenschaft, wird als genetisch-kritische Hybrid-Edition erstellt. Es entsteht eine zitierfähige, je nach Nutzungsinteresse variierbare Ausgabe, die den inhaltlich-dokumentierenden ebenso wie den materialen und medialen Charakter der Briefe synoptisch präsentiert, d.h. Transkript, Kommentar und Digitalisat des Originals werden nebeneinander sichtbar, sind aber jeweils auch auszublenden. Zugriffe sind dokumentenorientiert, teleologisch und chronologisch möglich.
Im Editionsprozess wird das vorhandene Material in einem plattformunabhängigen Sync & Share-System (Hessenbox) für die kollaborative Bearbeitung zusammengeführt. Aus den dort hinterlegten hochauflösenden Digitalisaten (TIFF-Format) und den Transkripten entstehen Dateien in TEI/XML, aus deren Metadaten auch eine Anbindung an den Webservice correspSearch ermöglicht wird, um die Auffindbarkeit der Briefe im Kontext weiterer Korrespondenzen zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund werden zudem Normdaten zu in den Briefen erwähnten Personen und Werken hinterlegt.
Die Edition wird über das Zentrum für digitale Editionen in Darmstadt (ZEiD) an der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt bereitgestellt, um die Nachnutzung und langfristige Verfügbarkeit von Forschungsdaten zu gewährleisten. So ist der Gewinn des Projekts nicht zuletzt eine Erweiterung der Möglichkeiten werkgenetischer Forschung und Dokumentation.
Angesiedelt ist das Projekt im Fachgebiet Computerphilologie am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der TU Darmstadt und wird bearbeitet von Mareike Bassenge, Sabine Bartsch, Luise Borek, Rotraut Fischer, Dario Kampkaspar, Andrea Rapp und Thomas Stäcker. Das Projekt wird in Kooperation mit der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel e.V. entwickelt.
Literatur (in Auswahl)
Fischer, Rotraut. „„von einer menschlichen Mitte aus“. Symmetrie(n) und Asymmetrie(n) im Briefwechsel zwischen Johann Heinrich Christian Bang und Friedrich Carl von Savigny: „. Die Geschichtlichkeit des Briefs: Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform, edited by Norman Kasper, Jana Kittelmann, Jochen Strobel and Robert Vellusig, Berlin, Boston: De Gruyter, 2021, pp. 245-262. https://doi.org/10.1515/9783110712568-012
Fischer, Rotraut: Irrungen, Wirrungen – Die Wiederentdeckung eines verschollenen Briefs von Wilhelm Grimm an Johann Heinrich Christian Bang (Brief Nr. 54) und wie er zu seiner Edition kam. Aus der digitalen Edition des Briefnetzwerks der Konstellation um die Brüder Grimm. In: DHd-Blog 09|2020. URL: https://dhd-blog.org/?p=14394
Fischer, Rotraut: Was tun wir, wenn wir Briefe edieren? Vorüberlegungen zu einer Hybrid-Edition romantischer Briefwechsel. In: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft 2019, S. 203-231.
Horn, Franziska: „Der Ereignis- und Objektcharakter von Briefen im 19. Jahrhundert-Briefformate und Reflexionen zum Briefempfang digital auswerten“, Gutachter*innen: Prof. Dr. Andrea Rapp, Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken (Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Haus / Goethe-Universität Frankfurt), Disputation 17. Juli 2019. DOI: 10.25534/tuprints-00009137
Horn, Franziska: “Mein liebster Bang”, “Mein liebster Savigny”. Die elektronische Aufbereitung und inhaltliche Erschließung des Briefwechsels zwischen Friedrich Carl von Savigny und Johann Heinrich Christian Bang. Masterarbeit TU Darmstadt 2012.
TextGrid Community: Projekte stellen sich vor. Der Savigny-Bang-Briefwechsel: https://textgrid.de/savigny-bang