Workshop an der Technischen Universität Darmstadt
Residenzschloss 1, Gebäude S3|12 Raum 12
vom 12.-13.11.2024
Mehr Informationen finden Sie hier.
Joëlle Weis (Universität Trier)
Über alles und nichts – Die Briefe Philippine Charlottes von Braunschweig an ihren Bruder Friedrich II. von Preußen
Die über 2000 erhaltenen und in französischer Sprache verfassten Briefe Philippine Charlottes von Braunschweig (1716 – 1801) an ihren Bruder Friedrich II. zeichnen sich durch einen extremen Kontrast zwischen Konvention und privatem Mitteilungsbedürfnis aus. Mitunter bestehen ganze, teilweise mehrseitige Briefe nur aus Ehrerbietungen dem älteren Bruder gegenüber, während andere präzise Gegenwartsbeobachtungen oder intensive Gefühlsbeschreibungen enthalten. Philosophische Gedanken und Lektüreeindrücke stehen neben scheinbar endlosen Liebesbekundungen, Ratschläge zu einer gesunden Lebensführung reihen sich an Bitten um Gefallen und Informationen aus Berlin. Die Briefe offenbaren damit ein das vielschichtige Leben einer Frau, das sich zwischen Politik, gesellschaftlichem Leben, Kindern, Gelehrsamkeit, Kunst und gähnender Lehre vollzog. Philippine Charlotte porträtiert sich in den Briefen als pflichtbewusste Schwester, Fürstin, Ehefrau und Mutter, die einerseits aus der ihr zugeordneten gesellschaftlichen Rolle ausbrechen will, das darunterliegende Frauenbild jedoch kaum in Frage stellt. Gleichzeitig kommt in den Briefen ein Bewusstsein für die eigene Gestaltungsmacht zum Ausdruck, die für Philippine Charlotte vor allem in der eigenen lebenslangen Bildung liegt. Der vorgeschlagene Beitrag zielt darauf ab, Einblicke in die Briefinhalte zu vermitteln, andererseits Strategien des self-writings einer privilegierten Fürstin des 18. Jahrhunderts zu beleuchten und in den Kontext ihrer Zeit zu stellen.
Mascha Hansen (Universität Greifswald)
„Ich rede, ich höre, ich lese & träume nur noch vom Krieg“: Königin Charlotte von Großbritannien und ihr politisches Selbstverständnis
In den Biographien Georgs III. wird Königin Charlotte von Großbritannien (1744-1818) auch heute noch als unpolitisch oder sogar politisch desinteressiert dargestellt (z.B. Andrew Roberts 2021). In der Tat hat sie selbst zumindest in ihrer englischsprachigen Korrespondenz mehrfach betont, dass sie sich nicht für Politik interessiere und jede politische Einmischung verabscheue. Die weniger bekannten Briefe an den Bruder Karl von Mecklenburg-Strelitz, von denen etwa 440 erhalten sind (Landeshauptarchiv Schwerin, Fürstensammlung), bieten jedoch ein ganz anderes Bild, zumindest wenn man “politisches Interesse” nicht allein über die Staatspolitik Großbritanniens definiert. Charlottes Selbstverständnis als geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz und Königin von Großbritannien ist geprägt von dynastischen politischen Interessen, die vor allem ihre deutsche Heimat und ihre Herkunftsfamilie betreffen, wie es für die Frauen des Hochadels üblich war (vgl. Stollberg-Rilinger 2017). Entsprechend interessierte sie sich lebhaft für die Ehepläne ihrer deutschen Verwandten und Bekannten, deren Nachwuchs und deren finanzielle Situation. Dieser “Klatsch und Tratsch” war wichtig, um die politischen Optionen der eigenen Familie im Auge zu behalten. Auch ihr politischer Einfluss auf den König verdient einen zweiten Blick: die Briefe zeigen, dass sie ihrem Bruder häufig davon abriet, bestimmte Themen zu erwähnen. Ebenso ließ sie ihn wissen, wie und wann er politisch relevante Themen anschneiden solle, um seinen Interessen Gehör zu verschaffen. Die von Elaine Chalus (2000) beschriebene politische Einflussnahme der Frauen des britischen Hochadels über soziale Netzwerke war ihr dagegen vermutlich tatsächlich zuwider, sie hätte ihr eigenes politisches Handeln – so auch die häufigen Unterhaltungen mit Hannoveraner Gesandten und zu Besuch weilenden Ministern – nicht als “politisch” (und damit für Frauen tabu) verstanden, denn es ging ja vornehmlich um Familieninteressen. Die Amerikanische Revolution wiederum zog auch die vermeintlich unpolitische Charlotte in ihren Bann: „Ich werde ungewollt politisch“, wie sie dem Bruder schrieb. Königin Charlottes Korrespondenz ist ein interessantes Fallbeispiel für die noch wenig erforschten weiblichen politischen Interessen, und das weibliche politische Selbstverständnis, wie sie in Frauenbriefen deutlich werden.
Heike Breitenbach & Denise Jurst-Görlach (Goethe-Universität Frankfurt)
„Unsere Gedanken kreisen immer um die Lage bei Euch“. Frauen und ihre Briefe im Umfeld von Buber-Korrespondenzen Digital
Das Projekt Buber-Korrespondenzen Digital (BKD) widmet sich der umfangreichen Korrespondenz Martin Bubers (1878–1965), dessen transdisziplinäres Denken im weitgefächerten Bereich von jüdischer wie nichtjüdischer Theologie, Philosophie, Religionswissenschaft, Literatur, Kunst, Soziologie, Pädagogik und Psychologie verortet war. Die mehr als 41.000 überlieferten Briefe, Postkarten und Telegramme, die Buber mit über 7.000 verschiedenen berühmten, aber auch zahlreichen unbekannt gebliebenen Personen austauschte, spiegeln dabei den Netzwerkcharakter seiner Wirksamkeit. Der Beitrag möchte
einen Blick darauf werfen, inwieweit Frauen Teil dieses männlich-dominierten Ego-Netzwerkes sind und welche Rolle(n) ihnen dabei zukommen. Ausgehend von ersten statistischen Auswertungen zum BKD-Gesamtkorpus (Wie viele Korrespondenzpartnerinnen und ihnen zugeordnete Briefe gibt es überhaupt? In welcher Beziehung stehen sie zu Buber?) soll anhand eines konkreten Beispiels der Blick über den engen Projektrahmen hinaus geweitet werden, um Beobachtungen zu den dort verhandelten Themen und eingenommenen Perspektiven vorzustellen und zu fragen, inwieweit es sich hierbei nur um den alltäglichen „Kleinkram“ und die vermeintlich „typisch weibliche“ Perspektive handelt, oder sie nicht vielmehr eine eigene Form von (philosophischen) Reflexionen und Selbstentwürfen eines Ich in der Beziehung zu einem Du darstellen. Hierzu sollen Briefe Paula und Martin Bubers, entstanden auf ihrer Europareise 1947, vergleichend betrachtet werden. Daran anschließend möchten wir über konkrete Auffindungs- und Auswertungsstrategien nachdenken, mit denen Briefe von Korrespondenzpartnerinnen gezielt gefunden und Frauen und ihre Themen im großen Gesamtkorpus sicht- und erforschbar gemacht werden können (Stichwort: Register- und Normdaten, Verschlagwortung). Denn letztlich wird nur eine reflektierte und gendersensible Annotationspraxis dazu beitragen können, den bestehenden Gendergap nicht im Digitalen zu reproduzieren.
Elena Suárez Cronauer (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz)
Ein quantitativer Blick auf Frauen im frühromantischen Briefnetzwerk: Potenziale und Herausforderungen
Briefe waren für Frauen im 18. Jahrhundert nicht nur eine Möglichkeit zur Kommunikation, sondern auch „Ausdruck weiblichen Lebens und Erlebens“ (Barbara Becker-Cantarino). Sie bieten die Chance, Einblicke in weibliche Lebenssphären dieser Zeit zu geben, wenngleich jene Briefkultur nur auf eine bestimmte Schicht von gebildeten und wohlhabenden Frauen zutrifft. Gleichzeitig stellt die Quellenlage Forschende vor Herausforderungen: So fehlen Briefe von Frauen zum einen durch individuelle Umstände, z.B. durch Vernichtung der Briefwechsel. Zum anderen wurden Briefe von Frauen lange Zeit nur im Zusammenhang mit einem männlichen Konterpart wahrgenommen und als Ergänzung zu Männerbriefen statt als eigenständige Quelle gelesen. Eine Möglichkeit, mit dieser lückenhaften Überlieferung umzugehen, ist es, einen anderen Blick auf Briefe einzunehmen: Statt einer qualitativen Betrachtung von Einzelbriefen die quantitative Analyse von Briefen von Frauen mittels Methoden der historischen Netzwerkanalyse. Weibliche Lebenswelten werden dabei als Plural begriffen und somit weder Frauen als eine homogene Gruppe betrachtet noch einzelne Frauen als Ausnahmeerscheinungen fokussiert. Datengrundlage sind Briefe von und an Frauen, die im Projekt „Korrespondenzen der Frühromantik. Edition – Annotation – Netzwerkanalyse“ gesammelt und in einem Knowledge Graphen modelliert werden. Der Knowledge Graph wird zudem mit weiteren Informationen aus Normdaten angereichert, sodass Analysen über die Ebene der Briefe hinaus möglich sind. Eine quantitative Betrachtung hat das Potenzial, Muster und Gruppen innerhalb der Briefe sichtbar zu machen und neue Aufschlüsse über das Material und die Frauen im Korpus zu geben. Gleichzeitig dürfen die oben beschriebenen Lücken und biases der Quellen, die sich in den Daten widerspiegeln, nicht unreflektiert übernommen werden. Hier können Ansätze aus dem Data Feminism helfen, um diese „silences in the dataset“ zu kontextualisieren (Catherine D’Ignazio & Lauren F. Klein).
Selma Jahnke (Schleiermacher-Forschungsstelle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften)
Der „Kleider Mittelstük“ oder „Lumpensammlerei“? Überlegungen zum Editionsformat der Umfeldbriefe in Hinblick auf die Sichtbarkeit von Frauen
Die digitale Edition von Briefen aus dem Umfeld Jean Pauls, die von 2019 bis 2023 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften realisiert wurde, musste sich schon vor Projektbeginn von konservativer Seite der Kritik stellen, ob – nach erfolgter Edition der Briefe von und an Jean Paul – die Briefe der Korrespondenzpartner:innen des Dichters untereinander für Literaturwissenschaft und -geschichtsschreibung überhaupt erheblich genug seien, um den Aufwand einer Edition zu rechtfertigen. Tatsächlich ührt die Umfeldedition in ihrer Vielstimmigkeit und Themenvielfalt in vielen Fällen weg vom dichterischen Werk der Einzelperson, legt Nebenschauplätze, Alltagsgeschichte und Lebenswelten wenig bekannter Akteur:innen frei. Sichtbar werden die Beiträge von Jean Pauls Frau Caroline Richter zum gemeinsamen Leben, sichtbar wird die professionelle Arbeit seiner Schwägerin Minna Spazier,
die als Redakteurin für verschiedene Almanache und Journale um ihre Möglichkeiten zum Geldverdienen als verwitwete Mutter von vier Kindern kämpfte, sichtbar werden die jüdische Kunststickerin Caroline Goldschmidt, die sich zwischenzeitlich mit einem Mädchenpensionat in Prag zu etablieren versuchte, und die verarmte und nahezu blinde Charlotte von Kalb, die vergeblich über ihre Jugendfreunde Jean Paul und Jakobi auf Unterstützung bei einer Schulgründung hoffte und derweil Textilien und Handarbeiten an Damen vom Hof und der besseren Gesellschaft vermittelte und verkaufte. Hinter dem „großen Mann“ erscheint nicht nur eine „starke Frau“, sondern eine Vielzahl an interessanten Frauen, Konstellationen, neuen
Fragestellungen, die mit den Möglichkeiten der DH auf neue Weise modelliert werden können. Trotzdem, so könnte eine Kritik von feministischer Seite lauten, bleibt der gemeinsame Bezugspunkt des Briefkosmos‘ Jean Paul, der kanonische Dichter. Oder ist er im Fall der Umfeldbriefe der Türöffner, der wirksam den Blick freigibt auf unerforschte Korrespondenzen von bisher unterrepräsentierten Akteur:innen? Diese Frage möchte ich nach einer Vorstellung einiger Beispiele aus der Edition gern diskutieren.
Andrea Hofmann (Theologische Fakultät Basel)
Geduldige Zuhörerin oder gelehrte Theologin? Frauen als Briefpartnerinnen von protestantischen Theologen im 16. und 19. Jahrhundert
Schon seit einiger Zeit wird die Bedeutung von Theologen-Briefwechseln für die Erforschung evangelischer Kirchengeschichte betont. Briefe zeigen, wie theologische Ideen im Austausch von zwei oder mehr Personen miteinander entwickelt wurden und lassen auch Alltagsprobleme der Schreibenden erkennen, die bei theologischen Entscheidungen oftmals eine Rolle spielten. Bisher wurde jedoch kaum berücksichtigt, dass seit der Reformation auch Frauen in Briefwechsel eingebunden waren. Im Zentrum des Vortrags stehen die Briefwechsel zweier bedeutender evangelischer Theologen. Martin Bucer, der Reformator Straßburgs, korrespondierte im 16. Jahrhundert mit Margaretha Blarer, einer gelehrten Frau aus Konstanz. Der Berliner Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher schrieb zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche Briefe an Frauen, u.a. an die Salonnière Henriette Herz und seine zukünftige Frau Henriette von Willich. Der Vortrag fragt jedoch gerade nicht nach den Positionen der evangelischen „Heroen“ Bucer und Schleiermacher, sondern nach denen der Frauen: Welche theologischen Inhalte entwickelten die Frauen in den Briefen? Wo griffen sie in Handlungsfelder der Männer ein? Entstanden beim Schreiben romantische Gefühle und wie wirkten sich diese auf die Diskussionen aus? Auch methodische Probleme kommen in den Blick: Wie geht man beispielsweise damit um, dass zahlreiche Briefe der Frauen nicht überliefert sind und ihre Positionen aus den Briefen der Männer erschlossen werden müssen? Ziel des Vortrags ist es, Handlungsfelder der briefeschreibenden Frauen im Rahmen der Theologie zu ermitteln und die Frauen damit als eigenständige Akteurinnen auszuweisen, die seit der Reformationszeit einen wesentlichen Einfluss auf die evangelische Theologie ausübten. Durch den Blick sowohl auf das 16. als auch auf das 19. Jahrhundert wird die Kontinuität im theologischen Engagement von Frauen seit der Reformation sichtbar, das sich im öffentlichen Raum in dieser Zeit nur undeutlich zeigt.
Stefan Dumont (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften)
„Es fehlt nehmlich von Max’ens Wäsche ein Uiberzug, 5 Handtücher […] und 10 paar Socken“ – Frauenbriefe trotz und mit correspSearch erforschen
Zwar bietet sich das digitale Medium zur Edition von Frauenbriefen eigentlich besonders an, allerdings sind viele digitale Editionen (oder Retrodigitalisierungsvorhaben) immer noch kanonisierten, männlichen Autoren gewidmet. Ein Grund dafür ist, dass digitale Editionen immer noch aufwendiger zu erstellen sind als gedruckte. In größeren Editionsvorhaben sind die dafür notwendigen DH-Stellen leichter unterzubringen und diese widmen sich häufig nur Männern. Darüber hinaus bestehen natürlich schon in der Überlieferung erhebliche Lücken. Diese Situation bildet sich auch im Webservice correspSearch (cS) ab. So umfasst der Personenindex von cS derzeit knapp 20.00 Personen, davon sind nur ca. 10% Frauen. Hinzu kommt die Verwendung von Normdaten-URIs (GND, VIAF etc.), die zwar grundsätzlich erfolgreich für eine projektübergreifende Auffindbarkeit von Korrespondent:innen sorgt. Allerdings fehlen insbesondere für Frauen häufig GND-Datensätze, was sich erstmal auch in der Suchfunktion von cS niederschlägt – sie können nicht direkt gesucht werden. Die genannten Probleme lassen sich aber grundsätzlich lösen. So können mit Partnerbibliotheken GND-Datensätze verstärkt für Frauen nachgetragen oder editionsinterne URIs verwendet werden. U.a. mit Hilfe der GND kann außerdem auch die Kategorie „Geschlecht“ als Recherchekategorie eingeführt und so Frauenbriefe – auch aus männerdominierten Editionen – suchbar gemacht werden. Seit kurzem kann man diese Suchkategorie auch mit einer Volltextsuche kombinieren, um etwa Alltagsthemen und -begriffe wie „Wäsche“, „Tischtuch“ etc. zu recherchieren. Das ganze natürlich projektübergreifend, so dass die konkreten Personen erstmal in den Hintergrund treten und die geschlechtergeschichtliche „Vogel“-Perspektive zum Tragen kommt. Der Beitrag möchte diese (und andere) Herausforderungen und Chancen von correspSearch bei der Erforschung von Frauenbriefen vorstellen und im Workshop diskutieren.
Thomas Kollatz (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz)
Kodierungsvorschlag zur projektübergreifenden Auszeichnung von Frauenbriefen
Editionen folgen projektspezifischen Editions- und Auszeichnungsrichtlinien. Digitale Editionsprojekte orientieren sich i.d.R. an den Richtlinien der TEI. Die TEI bietet mit ODD – One Document does it all – ein pragmatisches Verfahren zur projektspezifischen Anpassung der TEI an. Aus der ODD kann sowohl ein RNG-Schema zur Datenvalidierung generiert, als auch projektspezifische Editionsrichtlinien, also die begründete Auswahl und Anwendung der TEI-Elemente und die ihnen zugeordneten Attribute und Wertlisten formuliert werden.
Frauenbriefe finden sich häufig unbeachtet und zudem verstreut über zahlreiche (digitale und analoge) Editionsprojekte und stehen selten im Fokus des editorischen Prozesses.
Um diesem Dilemma zu begegnen, wird hier eine minimal invasive Erweiterung projektspezifischer ODDs vorgeschlagen. Im Kern sieht diese ODD genau ein einziges Attribut mit gemeinsam zu erarbeitenden Werten zur Auszeichnung, Klassifizierung und Identifizierung von Frauenbriefen, ihren Themen und Aspekten vor: Das @ana-Attribut “indicates one or more elements containing interpretations of the element on which the ana attribute appears.” (TEI Guidelines P5 Version 4.7.0, 2023, https://tei-c.org/release/doc/tei-p5doc/en/html/ref-att.global.analytic.html). @ana kann auf verschiedenen Ebenen eingesetzt werden:
- im edierten Text zur Textauszeichnung,
- in den Metadaten zur Verschlagwortung.
Gemeinsame Aufgabe wäre es, kollaborativ und #projektübergreifend eine solche gemeinsam zu nutzende @ana-Attribut-Werteliste für Frauenbriefe zu formulieren, die anschliessend Textauszeichnung und/oder Verschlagwortung ermöglicht. Werte könnten z.B. “mental Load”, “Paarbeziehung”, “Selbstentwurf”, “Alltagsbewältigung” … sein.
Diese Frauenbrief-ODD kann niedrigschwellig entweder über copy&paste oder über sog. ODD-chaining in bereits bestehende ODDs integeriert werden.
Perspektivisch könnte aus einer solchen Liste eine LOD (linked-open-data)-Vokabular für Frauenbriefe entstehen.
Philipp Hegel (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz)
Plaudern, Plunder, Poesie: Zur Editionsgeschichte der Korrespondenz zwischen Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking
Editionen haben teil an Rezeptionsgeschichten. Der Beitrag konzentriert sich auf den Briefwechsel zwischen Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking und damit zwischen zwei literarisch tätigen Menschen. Editionen wählen Briefe und Briefstellen aus, kontextualisieren sie und ordnen sie in die politische und kulturelle Umwelt der eigenen Zeit ein. Der Beitrag wird solche editorischen Paratexte bis hin zur Historisch-kritischen Ausgabe
besonders betrachten.
Im Vorwort verknüpft Theopanie Schücking 1893 zum Beispiel die Ausgabe der Briefe mit Levins Lebenserinnerungen und dem Lebensbild, das er postum von der Briefpartnerin zeichnete. Auf diese Weise wird die Edition selbst Teil einer in der Öffentlichkeit kursierenden Vorstellung von der Schriftstellerin. Als Reinhold Conrad Muschler diese Ausgabe 1928 mit einem umfangreicheren Vorwort versah, verändern sich teilweise die Kontextualisierungen des Briefwechsels. So heißt es etwa: „Die Romantik beider entspringt keiner ‚Richtung‘, […] sondern sie ist die Stimmung des Bodens, dem sie entstammen. Aus diesem Lande erhält die Droste auch den eigentümlichen Zwiespalt ihres Wesens: das unverbundene Nebeneinander von Ureigenem und rein Konventionellem, das sie selbst häufig peinigt und gegen das sie nicht an kann.“
Drei Aspekte sollen bei der Betrachtung dieser Veränderungen besonders im Blick bleiben: Wie verhält sich die Poesie zum Plaudern, das in den Briefen selbst mehrfach angesprochen wird, und wie zum Plunder, verstanden als die Gegenstände des Alltags? Könnten die Briefe als literarische Übungen oder Vorbereitungen zu Droste-Hülshoffs Balladen oder Schückings Roman Eine dunkle That, in dem Theophanie das Verhältnis der beiden gespiegelt sah,
verstanden werden? Sowohl in den Werken als auch in den Briefen finden sich Beschreibungen der eigenen Rollen und der Rollenerwartungen an Frauen und Männer. In dem Beitrag sollen diese Beschreibungen besonders herausgearbeitet werden.
Jutta Linder (Universität Messina)
„[…] daß ich so starr meinen Weg gehe“. Zu den Briefen der Annette von Droste-Hülshoff
Vergebens ist man bemüht, über die nachgelassenen Briefe der Droste – zweihundertsiebzig an der Zahl – einen tieferen Einblick in ihre Dichterwerkstatt zu gewinnen. In den durchweg sehr langen Episteln, mit denen die Autorin sich Angehörigen des sie umgebenden, so weit verzweigten Verwandtschaftskreises, aber auch, wenngleich nicht so häufig, befreundeten Mitgliedern der literarischen Welt mitteilt, spricht sie sich mit besonderer Vorliebe über
Angelegenheiten ihres sozialen, kulturellen sowie privaten Umfeldes aus, doch mit Fragen, die speziell die Machart der eigenen Werke betreffen, hält sie in der Korrespondenz in auffallender Weise zurück.
Inwieweit nun solches Sich-Ausschweigen der Briefschreiberin für seinen Teil auch – etwa im Sinne einer Protektion von noch zu formendem Ureigenen – in Verbindung zu sehen ist mit dem bekannten Streben nach Autonomie, das die Dichterin bei allen Zugeständnissen an die Einschränkungen, denen sie als Fräulein von Stande seinerzeit unterliegen musste, in ihrer geistigen Ausrichtung doch ganz entschieden bestimmte, hat zu erhellen dieser Beitrag zum Thema Frauenbriefe des 19. Jahrhunderts sich zur Aufgabe gemacht.
Yvonne Al-Taie (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
„Wenn die Federn immer geschnitten wären, die Tinte nicht eingetrocknet“. Briefschreiben zwischen Welterkundung und Alltagsanforderung bei Bettina von Arnim.
„Wenn die Federn immer geschnitten wären, die Tinte nicht eingetrocknet gerade wenn die Laune zum Schreiben sich findet“, lautet einer von Bettina von Arnims Briefanfängen. Was auf die eher alltagsbedingten Hemmnisse des Briefeschreibens zu verweisen scheint, deutet sie im weiteren Verlauf des Satzes um auf die Herausforderung, die richtigen Worte und die bedeutende Mitteilung zu finden. Damit ist in einem Satz der Spannungsbogen aufgebaut, zwischen dem sich Bettina von Arnims Briefe bewegen: Zwischen dem Alltag und seinen Anforderungen, dem das Schreiben von Briefen immer wieder abgerungen werden muss, sowohl als unverheiratete Frau als auch als Ehefrau und Mutter in Berlin und Wiepersdorf, – indem sie sich dem geselligen Ausflug nicht anschließt, sich vor dem störenden Besuch auf ihr Zimmer zurückzieht oder unter den ausladenden Tannen im Garten von Wiepersdorf ihr Schreibquartier aufschlägt, bis ihre Kinder sie unterbrechen – und der Leidenschaft, mit der Bettina von Arnim in ihren Briefen Umgebungen und Situationen zu schildern und Reflexionen zu entwerfen vermag. Imagination und philosophisches Nachdenken finden sich darin ebenso wie spöttische Beschreibung ihrer Mitmenschen, etwa Friedrich Schlegel in Berlin. Zugleich ist der Alltag stets präsent in ihren Briefen, in der Beschreibung von Tagesabläufen, wenn sie ihrem Ehemann in ganzen Listen die Haushaltskosten vorrechnet, aber auch in der Sorge um kranke Angehörige und Freunde. Das Briefeschreiben selbst und die konkrete Schreibumgebung, in der es stattfindet, werden dabei immer wieder metareflexiv zum Thema. Den komplexen Verschränkungen von Themen und Gegenständen und den sprachlichen Mitteln, derer sich Bettina von Arnim als Briefschreiberin bedient, möchte der Vortrag nachgehen und dabei unter Rekurs auf sozialwissenschaftliche Theoriebildung einerseits die praxeologische Dimension ihres Schreibens rekonstruieren und andererseits ihr Brechen mit gesellschaftlichen und sprachlichen Konventionen mit Hartmut Rosa als eine Welthaltung der Resonanz zu konzeptualisieren versuchen.
Jochen Strobel (Philipps-Universität Marburg)
Männerbriefe – Frauenbriefe!? Zu einem Topos der Forschung
Eine im Marburger MA-Studiengang „Cultural Data Studies“ entstandene stilometrische Abschlussarbeit1 förderte zu Tage, dass sich von den edierten Briefen an August Wilhelm Schlegel die beiden untersuchten Korpora (Briefe von Frauen an AWS, Briefe von Männern an AWS) im Gebrauch von Satzzeichen statistisch erheblich unterscheiden: männliche Briefschreiber gebrauchen den Gedankenstrich deutlich öfter als weibliche, diese hingegen verwenden Frage- und Ausrufezeichen sehr viel häufiger als Männer. Wertet man die Daten stichprobenartig qualitativ aus, dann sind konkrete und je unterschiedliche kommunikative Absichten der jeweiligen Schreiber:innen als Ursachen zu erkennen – der Fehlschluss, mithilfe von Geschlechterstereotypen Ursachenforschung zu betreiben, ist hier aber verführerisch.
Die Romantik-Rezeption seit dem späten 19. Jahrhundert und namentlich die Forschung des 20. Jahrhunderts war an der Ergründung des romantischen ‚Geistes‘ aus den Quellen heraus gelegen, von ‚romantischen Menschen‘ hatten entsprechende Hinterlassenschaften auszugehen. Eine Ontologisierung der Romantik musste also trotz aller Werkskepsis ausgerechnet des Kreises der Frühromantiker:innen, deren Experimente jedoch schon früh mit holistischen Selbstbeschreibungen und Essentialisierungen wie etwa Werkausgaben (Novalis!) changierten, über die Werke, also: das materialiter Verfügbare, geschehen. Da aber erkennbar der Anteil von Frauen am sozialen und publizistischen Labor der Frühromantik hoch war, durften sie mit ihren Briefen glänzen, legt etwa Franz Muncker bereits 1890 in der ADB Caroline Schlegel-Schelling fest auf die „schönsten Frauenbriefe[] aus der Glanzperiode unserer neueren Litteratur“.2 Damit war einerseits ein (freilich: minderes) Label für die Frauen des Kreises gefunden, zugleich waren Briefe zur Not doch anschlussfähig an die Zieldomäne, also die der Kunst, der Literatur. ‚Romantiker‘ hatten im wirklichen Leben – anders als so mancher Künstler in ihren Texten – ‚Werke‘ zu produzieren, bei Frauen mussten Briefe
herhalten.
Dabei war auch um 1900 bekannt, dass viele Briefe aus dem Jenaer Kreis mehrere Absender:innen und Adressat:innen hatten, dass Männer auf Zuruf Text-Einsprengsel von Frauen protokollierten, dass Frauen im Brief zitativ Männer zu Wort kommen ließen – also viele Briefe kollektive Produkte sind. Zudem war bekannt, dass Brief und Briefroman des Diskurses der Empfindsamkeit (Wegmann) sich um eine Deontologiserung von Geschlecht bemüht hatten, Männer also anders, als es die Briefsteller des frühen 18. Jahrhunderts noch verfügt hatten, mitunter ‚weibliche‘ und Frauen ‚männliche‘ Briefe schrieben.
Es scheint nun, die Forschungsbeiträge zu Briefen hätten lange Zeit den Topos vom ‚Frauenbrief‘ oder gar ‚weiblichen Brief‘ erfolgreich aufrechterhalten, als schrieben Frauen, weil sie eben vermeintlich nichts anderes schreiben ‚durften‘, ganz andere, besondere und mehr Briefe als Männer. Dass eine kritische Reflexion hierauf aber offenbar unnötig erschien, zeigt die Tatsache, dass vom Männerbrief niemals die Rede ist, Briefe von Männern also eine unhinterfragte, auch nicht kontrastiv zu den angeblich besonderen Briefen von Frauen untersuchte Größe darstellten.
Gilt also für Briefe (faute de mieux) die von den Gender Studies längst verabschiedete Überzeugung, dass Frauen ‚anders‘ schrieben (R. Klüger), nach wie vor und wie konnte sich dieser Topos fortschreiben? Welche Korrelate besitzen Vorentscheidungen, die auf einer Ontologisierung teils von Produktionsumständen, teils von Überlieferungskontigenzen (z. B. Sammlung Varnhagen) beruhen? Und welche forschungspolitischen Absichten standen hinter der gelegentlichen Aufwertung von Briefen, insbesondere wenn sie von Frauen geschrieben worden waren?
Diese Fragen sollen im Kontext der Arbeit des DFG-Projekts „Korrespondenzen der Frühromantik“ (briefe-der-romantik.de) angerissen werden. Fernziel ist eine präzise Neubestimmung des Stellenwerts von Briefen für einen Kreis junger Intellektueller, für die das Briefeschreiben zwischen persönlicher Nähe und der Förderung von Geschäften ein Element einer ‚Politik der Poesie‘ war.
- Gwanghun Park: Stilometrische Analyse zur Korrelation von Brief und Geschlecht um 1800 am Beispiel der
Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels. (MA-Arbeit Marburg 2024.) ↩︎ - https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Schelling,_Caroline_von (20.05.2024) ↩︎
Wolfgang Bunzel (Freies Deutsches Hochstift; Frankfurter Goethe-Museum)
Briefe als weiblicher Denk-Raum bei Bettine Brentano/von Arnim
Schon in Bettine Brentanos frühen Briefen finden sich neben situativen Berichten über die jeweils aktuellen Lebensumstände, Mitteilungen über Erlebtes und intimen Offenbarungen über Hoffnungen und Gefühle auch Reflexionen allgemeiner Art, die nicht selten sentenzenhaft formuliert sind und zu prägnanten Aphorismen verdichtet werden. Offenbar nutzt die Schreiberin das epistolare Medium gezielt als Freiraum des Denkens. Die Erprobung der eigenen geistigen Produktivität geht dabei freilich einher mit einer ausgeprägten Skepsis gegenüber den Folgen einer Fixierung des einmal Gedachten. Der situative, momentgebundene Charakter des Briefes nun verschafft Bettine Brentano/von Arnim die Möglichkeit, in einer alltagsnahen Form der Kommunikation Denkarbeit zu betreiben, ohne diese in festgelegte Textstrukturen überführen zu müssen. Schon die voreheliche Korrespondenz mit Achim von Arnim weist deutliche Züge reflexiver Selbstvergewisserung auf. Vollends im intensiven schriftlichen Austausch mit Max Prokop von Freyberg, einem Studenten ihres Schwagers Friedrich Carl von Savigny, setzt Bettine Brentano/von Arnim den Brief dann auch als Mittel der wirkungsästhetischen Vermittlung ihrer Überzeugungen ein. In ihrer Witwenzeit schließlich dokumentiert sie ihre frühen, brieflich artikulierten Reflexionen in teilfingierten Quellendokumentationen und verwandelt diese dabei in Stellungnahmen zur zeitgeschichtlichen Gegenwart. Parallel dazu belegen die mit ihren jugendlichen Verehrern gewechselten Briefe der 1830er und 1840er Jahre, wie selbstbewusst Bettine von Arnim sich mittlerweile als eigenständige Denkerin präsentiert, die für sich sich in Anspruch nimmt, ihre Gegenüber einerseits im mündlichen Gespräch, andererseits in der schriftgestützten epistolaren Kommunikation selbst wiederum zur Reflexion anzuregen.